M.M.M.M. by Jean-Philippe Toussaint

M.M.M.M. by Jean-Philippe Toussaint

Autor:Jean-Philippe Toussaint [Toussaint, Jean-Philippe]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2017-08-15T00:00:00+00:00


Als Marie mich mitten in der Nacht anrief, hatte ich zunächst gar nichts verstanden. Der Regen fiel in Strömen durch das offene Fenster, und der Donner grollte, ich hörte das Klingeln des Telefons durch die Dunkelheit der kleinen Zweizimmerwohnung hallen, in die ich ein paar Monate zuvor gezogen war. Schon beim Abheben des Telefons erkannte ich Maries Stimme, Marie, die mich anrief, gleich nachdem sie den Notarzt gerufen hatte – kurz danach oder kurz davor, ich weiß nicht, die beiden Anrufe müssen jedenfalls unmittelbar im Anschluss aneinander stattgefunden haben –, Marie, die völlig außer sich und verwirrt mich flehentlich zu Hilfe rief, mich inständig bat, zu ihr zu kommen, auf der Stelle, mir aber nicht sagte, warum, komm, sagte sie mir mit überschlagender Stimme, komm sofort, beeil dich, es ist dringend, sie drang in mich, flehte mich an, zu ihr in die Rue de La Vrillière zu kommen.

Der Anruf Maries – es war kurz nach zwei Uhr morgens, das weiß ich genau, ich habe auf die Uhr geschaut, als das Telefon klingelte – war extrem kurz, keiner von uns beiden hatte Lust oder war in der Lage zu reden, Marie hatte mich schlicht zu Hilfe gerufen, und mir hatte es die Stimme verschlagen, ich war noch gelähmt von der Angst, die mich beim Klingeln des Telefons mitten in der Nacht erfasst hatte, ein Gefühl, das noch wuchs und sogar angestachelt wurde durch eine irrationale und heftige Empfindung, die über mich kam, als ich die Stimme von Marie erkannte – sofort waren diese Befangenheit, diese Beschämung, dieses Schuldgefühl da. Denn in dem Moment, in dem ich die Stimme Maries wiedererkannte, war mein Blick auf den Körper einer jungen Frau gerichtet, die bei mir in meinem Zimmer schlief, ich sah ihren im Halbdunkel liegenden reglosen Körper, das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war ein winziger Slip aus blassblauer Seide. Ich betrachtete ihre nackte Flanke, die Linie ihrer Hüfte. Ich betrachtete Marie, ohne zu verstehen (Marie, auch sie hieß Marie), und in einer Anwandlung von Schwindel und Taumel ahnte ich plötzlich etwas vom Ausmaß der Verwirrung, in der ich die letzten Stunden dieser Nacht erleben sollte. Sicher konnte ich klar zwischen Marie und Marie unterscheiden – Marie war nicht Marie –, aber ich hatte plötzlich die Eingebung, dass es mir nicht gelingen würde, mich in zwei Hälften aufzuteilen, um gleichzeitig derjenige zu sein, der ich für jene Marie war, die in meinem Bett lag, und derjenige, der ich für Marie war – ihre Liebe (auch wenn wir, seitdem ich nach unserer Rückkehr aus Japan in die kleine Zweizimmerwohnung in der Rue des Filles-Saint-Thomas gezogen war, nicht mehr zusammenwohnten).

Um halb drei Uhr morgens verließ ich die kleine Zweizimmerwohnung in der Rue des Filles-Saint-Thomas, um zu Marie zu gehen. Draußen war der Himmel dunkel, schwarz, riesig, unsichtbar, und vom Horizont nichts war zu sehen als der ununterbrochen vor dem gelblichen Licht der Straßenlaternen fadendick herunterfallende Regen. Ich hatte mich in den Wolkenbruch gestürzt, den Kragen meines Jacketts hochgeschlagen und mich, weil der



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